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Vom Leben und Sterben

  • Heidi
  • 7. Apr. 2017
  • 6 Min. Lesezeit


Das klingt jetzt dramatisch. So dramatisch soll’s gar nicht werden. Aber im Grunde umfasst es den gestrigen Tag.


Bevor ich dazu komme, noch kurz etwas anderes: an dieser Stelle sollte längst eine kleine (bis größere) Zusammenfassung unserer Mini-Tour mit Lee MacDougall stehen. Kommt auch noch. Ebenso die Fotos. Nur später. Die Dinge gehen alle etwas langsamer im Moment. Oder anders ausgedrückt: das reale Leben und die körperlichen und geistigen Grenzen spielen nicht immer das gleiche Spiel, was ich gerne spielen möchte. Klingt schon wieder dramatisch. Ist es aber nicht.


Nun zu gestern.


Ich hatte einen Termin beim Kardiologen. Der letzte halbjährliche. Weil’s mir so gut geht, brauche ich jetzt nur noch eine jährliche Kontrolluntersuchung, sagt er, nachdem er sich die Ergebnisse von Ultraschall und Belastungs-EKG angesehen hatte. Soweit so gut. Damit wäre ich dann auch schon fast wieder entlassen gewesen (dieser Arzt war einer der schnellen, man könnte auch sagen hektischen Sorte), hatte aber so gerade noch Gelegenheit ihn zu fragen, warum ich denn in den letzten Wochen, ja Monaten, an mir beobachte, dass ich schneller müde werde, schneller erschöpft bin (körperlich wie geistig), schneller genervt bin, ein starkes Bedürfnis nach Rückzug, Ruhe, weniger Trubel, weniger Menschen habe. Herzsache? Oder Kopfsache?


„Na ja, sie sind ja schließlich keine 40 mehr“, kam dann augenzwinkernd. Ach so. Vielen Dank für den Hinweis, Herr Doktor. Am Ende lief es dann auf ein „es ist ein Mix aus vielen Dingen, der Herzinfarkt ist nur ein Grund, die Medikamente ein anderer, aber wenn man älter wird, ist das eben so“ heraus.


Wenn man älter wird, ist das eben so. Ist das tatsächlich so? Mag sein. Andererseits – ich bin schließlich noch keine 70. Ich kenne genügend Leute in meinem Alter, die keine Probleme mit Aktivität, Stress und vielen Leuten haben. Nach meinem eigenen Gefühl, ist es nicht nur eine Sache des Älterwerdens. Nach meinem eigenen Gefühl ist es eine Sache der langfristigen Nachwirkungen eines Herzinfarktes. Und ich meine damit nicht einmal die rein körperlichen Aspekte. Nach meinem eigenen Gefühl haben sich so einige Dinge – vor allem auch in meinem Kopf – grundlegend verändert. Was mich wirklich interessiert ist: geht das anderen auch so? Anderen Herzinfarktpatienten. Oder Patienten, die ernsthafte Krankheiten durchlebt… überlebt haben. Verändert das grundsätzlich? Oder ist es individuell? Fakt ist: es hat MICH verändert. Eine Veränderung, die ich immer gravierender spüre.


Ein deutlicher Beweis wurde mir am vorletzten Wochenende im März vor Augen geführt, als wir im Zuge der Lee-Tour ein verlängertes Wochenende in Hamburg verbracht haben. Donnerstags nach 5 Stunden Autofahrt noch mal eben kurz frischmachen, dann knapp 25 Minuten mit dem Taxi zum Club, dort Freunde getroffen, Konzert gesehen, noch einen Absacker getrunken, zur S-Bahn Station gegangen, 20 Min auf die Bahn gewartet, 15 Min Fahrt zum Zielbahnhof, von dort den falschen Weg zum Hotel genommen und fast ‚ne halbe Stunde Umweg gelaufen… ich war erschöpft. Okay, sagen jetzt sicher einige, das IST auch erschöpfend. Da wäre ich auch müde. Ja. Natürlich. Aber ich war nicht nur müde. Es war ein so tiefgreifende Erschöpfung, die ich so nicht kenne. Und es zog sich durch das gesamte restliche Wochenende. Eine Art Wochenende, von denen wir noch bis vor kurzem ganz viele hatten. Die mir nie etwas ausgemacht haben, die wohl jetzt so nicht mehr möglich sind, das ist mir an vielen kleinen Details mehr als klar geworden. Ich hätte mindestens einen Tag Ruhe gebraucht, nach diesem Donnerstag. Aber man fährt nicht auf ein Wochenende nach Hamburg, um sich ins Hotelbett zu legen. Also ging’s weiter. Zwar langsam, aber es ging halt weiter. Freitags Stadtbummel, Samstags Treffen mit Freunden und eine Bootsfahrt. Es war alles toll. Bis es dann nicht mehr toll war und ich mich einfach nur auf den Boden hätte legen können, genau da, wo ich gerade war, um zu schlafen. Auszuruhen. Niemanden mehr sehen und sprechen. Nicht mehr gehen, aktiv sein, kommunizieren müssen. Und dieses Gefühl kenne ich, bei allen unzähligen Aktivitäten der letzten Jahre, die teils auch anstrengend waren, so nicht! Ein Gefühl, was nichts mit „ich bin etwas k.o. von einem aktiven Wochenende“ zu tun hat. Es ist etwas, was tiefer greift.


Es war das erste wir-sind-mal-wieder-auf-Tour Wochenende nach längerer Zeit. (Genauer gesagt, das zweite. Das erste war eine Woche zuvor, gefolgt einer privat wie beruflich super stressigen Woche.) Und es hat mich vollkommen aus den Socken gehauen. Was bedeutet das für die Zukunft? Weniger Touren und Kurztrips? Vielleicht. Die Touren und Aktivitäten auf Trips besser bzw. anders planen und gestalten? Definitiv. Daran geht kein Weg vorbei. Es war vielleicht ein guter Indikator für wie wir unseren 11-Tage-Trip nach London im Mai planen und gestalten sollten. 11 Tage Non-Stop Touristenkulturprogramm? No way!


Aber es ist ja nicht nur der körperliche Aspekt. Ich schalte seit Monaten den Fernseher nicht mehr ein (von einigen, ganz ganz wenigen Ausnahmen abgesehen). Ich schalte nicht mal mehr das Radio ein. Wer mich kennt, weiß, wie ungewöhnlich das ist. Mich nerven Menschenansammlungen. Mich nervt die Kollegin und ihr permanentes Reden und Kichern. Mich stressen stressige Situationen sehr viel schneller als noch vor wenigen Monaten. Mich nervt manchmal sogar ständiges Kommunizieren müssen. Ich denke sogar darüber nach, ob ich meinen Job noch so weitermachen möchte, wie ich das die letzten 20 Jahre gemacht habe. Muss mich das jetzt beunruhigen? Und hat das nun mit dem Herzinfarkt und den Nachwehen zu tun oder nicht? Ich weiß es immer noch nicht. Ich weiß nur, es ist momentan so. Ich genieße derzeit den April, weil er keine Termine beinhaltet. Kein „Muss“. Nur „Kann“. Ich möchte lesen. Ganz viel lesen. Ich möchte spazieren gehen. Und ansonsten möchte ich Ruhe.


Ich hadere sehr mit mir selbst wegen all dem. Hadere mit dem Älterwerden, nur um mir dann zu sagen, dass ich spinne. Ich bin weder alt, noch gebrechlich. Ich bin eine Überlebende. Ich habe mich prima erholt von einem Ereignis, bei dem ich einen wunderbaren Schutzengel gehabt haben muss. Ich bin immer noch da, mir geht es gut (ich klopfe an dieser Stelle 3 x auf Holz weil ich total gar nicht abergläubisch bin). Worüber reden wir dann also eigentlich hier? Darüber, nicht mehr wie ein Derwisch non-stop in der Weltgeschichte rumzuflitzen? Darüber, mal etwas eher müde zu werden als früher? Darüber, sich einfach mal zurückziehen zu möchten, statt auf 20 Hochzeiten zu tanzen? Ernsthaft?


Ja, ernsthaft. Wahrscheinlich auch deswegen, weil das permanente auf Achse sein mir in den letzten Jahren so in Fleisch und Blut übergegangen ist, dass ich nicht mehr gemerkt habe, wie anstrengend es tatsächlich war. Es fehlt mir einerseits. Und andererseits spüre ich, dass ich es so nicht mehr könnte, selbst wenn ich wollte. An diese Tatsache muss ich mich aber erst mal gewöhnen.


„Sie können machen, was immer sie möchten“, sagte mir der Arzt. „Es ist alles in Ordnung bei ihnen, sie haben sich sehr gut erholt“. Ich denke, dies ist die wichtigste Aussage. Also werde ich aufhören, Dinge in Frage zu stellen. Vergleiche mit „früher“ anzustellen. Einfach das Leben nehmen wie es kommt. Und auf mich und meinen Körper und seine Bedürfnisse hören. Und wenn das bedeutet, zu Aktivitäten, zu Reisen, zu Konzerten, zu Kino, zu Freunden, zu was auch immer, einmal nein zu sagen, dann ist das so. Es nützt mir nichts, das zu tun, was anderen gut tut, sondern was mir gut tut. So viel Egoismus muss sein. Auch wenn ich Egoismus noch ein wenig lernen muss…


Der Punkt ist: ich lebe. Was man leider von einem sehr lieben ehemaligen Kollegen von mir nicht mehr sagen kann. Über 14 Jahre hat er mir im Büro gegenüber gesessen, bevor er vor knapp 2 Jahren aus dem Unternehmen ausschied. Freiwillig. Vorausgegangen waren gute zwei Jahre starken körperlichen Abbaus aufgrund von Magersucht. Die er nie öffentlich eingestanden hat. Die Nachricht seines Todes war einerseits nicht überraschend, hatten wir dies doch schon länger befürchtet. Und dann ist es doch immer wieder überraschend und schockierend, wenn jemand, den man gut kennt, plötzlich nicht mehr da ist. Zuletzt gesprochen mit ihm habe ich im November. Er rief mich extra an, um mir seine Empörung über Trump’s Wahlsieg mitzuteilen. Wir hatten früher immer sehr interessante Gespräche über das tägliche Leben, die Nachrichten, das Weltgeschehen, und die kleinen Dinge des Lebens. Ich hatte mich über diesen spontanen, überraschenden Anruf gefreut. Ansonsten hörten wir immer an unseren jeweiligen Geburtstagen voneinander. Er klang optimistisch, im November. Es ginge ihm besser. Nichts in dem was er sagte, wie er es sagte, und wie er klang, widersprach dem. Ich freute mich für ihn. Und nun erfahren wir heute, mehr durch Zufall, dass er bereits am 21.12.2016 verstorben ist. Und nicht etwa durch ein Familienmitglied. Von dieser Seite kam keine Information, was mich zusätzlich traurig macht.


Er wäre im September 50 geworden. Jetzt ist er nicht mehr da, viel zu früh ist er einfach nicht mehr da. Ich bin sehr traurig darüber. Und wütend. Weil er mich mit einer oberflächlichen, kichernden, in Kleinmädchensprache sprechenden Frau zurückgelassen hat, an der ich täglich meine Toleranzgrenze trainiere. Ich vermisse ihn, seinen Humor, seine großartige Gabe zur Ironie, die gleiche Wellenlänge, auf der wir so oft waren, und vor allem die Gespräche mit ihm. Ruhe in Frieden, lieber Kollege!


Ich sollte aufhören, mir Gedanken über altersbedingte (?) Grenzen zu machen, und lieber froh und dankbar sein, dass ich hier bin.


Ich lebe.


Alles gut.

© Copyright Heidi Oehlschläger
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